Berufspolitik

Steuerung mit Augenmaß

KVBB-Vertreterversammlung diskutierte Primärarztsystem, Entbudgetierung und Cybersicherheit

Wie gelingt eine zukunftsfeste ambulante Versorgung in Brandenburg? Welche Rolle kann und soll dabei ein Primärarztsystem spielen? Und wie lässt sich die ambulante Infrastruktur angesichts wachsender Herausforderungen schützen – finanziell, strukturell und digital? Diese und weitere Fragen standen im Zentrum der Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB) am 20. Juni in Potsdam. Der Bericht zur Lage von der Vorstandsvorsitzenden Catrin Steiniger markierte den Auftakt zu einer intensiven und kontroversen Debatte.

Verantwortung übernehmen – mit Augenmaß

Catrin Steiniger begrüßte in ihrem Bericht die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) initiierte Debatte zur verbesserten Steuerung von Patientinnen und Patienten. Sie unterstütze das am 19. Mai vorgelegte Konzept grundsätzlich, „weil wir damit Verantwortung übernehmen für eine ambulante Versorgung, die auch morgen noch funktioniert“. (Siehe auch „KV intern“ 6/2025.)

Zugleich betonte sie die Grenzen pauschaler Lösungen: „Was in Berlin-Mitte praktikabel erscheint, kann in der Uckermark oder der Lausitz zum Nadelöhr werden.“ Die KVBB-Vorsitzende plädierte für flexible und regionalspezifische Konzepte: „Steuerung braucht Augenmaß, Flexibilität und Praxistauglichkeit.“ Eine verpflichtende Erststeuerung über die Hausarztpraxis oder die 116117 hält sie weder für realistisch noch zielführend: „Ich setze mich dafür ein, dass alle grundversorgenden Praxen bei Bedarf als erste Anlaufstelle fungieren können – hausärztliche wie fachärztliche.“

Sorge um Fachärzte: Honorarsystem im Fokus

In der anschließenden Aussprache meldeten sich zahlreiche VV-Mitglieder kritisch zum Primärarztsystem zu Wort. Dr. Torsten Braunsdorf, Chirurg aus Calau, warnte vor möglichen Einnahmeverlusten für Facharztpraxen: „Wenn wir weniger Fälle behandeln dürfen, drohen empfindliche Einbußen – bei ohnehin schon schwieriger Finanzlage.“ Die aktuelle Honorarverteilung basiere auf Fallzahlen, eine Veränderung dieser Grundlage könne Investitionen und Praxiserhalt gefährden.

Frau Steiniger sicherte zu, das Thema bereits auf Bundesebene platziert zu haben: „Wenn das so kommt wie diskutiert, können Fachärztinnen und Fachärzte nur noch aufgeben.“ Ähnlich äußerte sich Dr. Markus Friedrich, Dermatologe aus Oranienburg: „Viele meiner Patienten haben keinen Hausarzt. Sollen die sich jetzt einen suchen, nur um zu mir zu dürfen? Und was passiert, wenn wir nur noch komplexe Fälle sehen? Dann funktioniert unsere Mischkalkulation nicht mehr.“

Primärarztmodell braucht Differenzierung

Dr. Stefan Roßbach-Kurschat, stellvertretender KVBB-Vorsitzender und Hausarzt, sprach sich für eine differenzierte Betrachtung des Primärarztmodells aus: „Wir Hausärztinnen und Hausärzte leisten einen wichtigen Beitrag zur Steuerung – das steht außer Frage. Aber wir brauchen klare Verbindlichkeiten, etwa bei No-Shows. Da traut sich die Politik bislang nicht ran.“

Auch Dr. Hanjo Pohle, Hausarzt aus Rathenow, sah Defizite bei der Umsetzung: „Die Politik hat erkannt, dass Steuerung nötig ist. Aber ohne Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung wird das nicht funktionieren.“

Mediale Missverständnisse

Für Irritation sorgten Presseartikel, in denen suggeriert wurde, die KVBB lehne das Primärarztsystem grundsätzlich ab. So äußerte sich Frau Meineke besorgt über mediale Verkürzungen: „Fast die Hälfte der KVBB-Mitglieder sind Hausärzte. Da sollten wir genau auf die Wortwahl achten.“ Catrin Steiniger stellte klar: „Wir lehnen das Primärarztsystem nicht ab – wir hinterfragen seine Umsetzbarkeit und die möglichen Folgen für alle Versorgungsbereiche.“

Entbudgetierung: Zwischen Anspruch und Realität

Ein weiterer zentraler Punkt der Vertreterversammlung war die hausärztliche Entbudgetierung. In seinem Vortrag machte Dr. Roßbach-Kurschat deutlich, dass der politische Anspruch aktuell nicht mit der Versorgungspraxis übereinstimme. Eine echte Entbudgetierung müsse alle hausärztlichen Leistungen einbeziehen – insbesondere die psychosomatische Grundversorgung, den Ultraschall und die Schmerztherapie. „Bei einem Anteil von über 45 Prozent somatoformer Störungen kann es nicht sein, dass die psychosomatische Betreuung gedeckelt wird.“

Mit Blick auf die geplante Ambulantisierung forderte er ein klares Bekenntnis zum ambulanten Sektor: „Wenn der Ausbau ambulanter Strukturen ernst gemeint ist, muss er bei den Niedergelassenen beginnen – nicht in den Kliniken.“ Krankenhausambulanzen unter Budgetbedingungen könnten die ambulante Versorgung nicht auffangen, sondern gefährdeten sie zusätzlich. „Neue Strukturen helfen nicht, wenn bestehende dafür finanziell ausbluten.“

Sein Fazit: „Wir wollen versorgen, wir wollen entlasten – aber wir brauchen dafür verlässliche Punktwerte und eine auskömmliche Finanzierung.“

Digitale Angriffe – reale Bedrohung

Eindringlich warnte KVBB-Vorstand Holger Rostek in seinem Vortrag vor Cyberangriffen im Gesundheitswesen. „Was früher wie Science-Fiction klang, ist heute bittere Realität.“ Laut einer Befragung aus dem Jahr 2024 hatten bereits rund zehn Prozent aller Praxen in Brandenburg einen IT-Sicherheitsvorfall – das entspricht etwa 320 betroffenen Einrichtungen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Besonders perfide: Cyberangriffe über manipulierte Bewerbungen. „Wer heute eine MFA-Stelle ausschreibt, bekommt nicht selten E-Mails mit schadhaften Anhängen“, so Herr Rostek. Werden diese geöffnet, seien oft alle Daten verschlüsselt – im schlimmsten Fall komme der Praxisbetrieb zum Erliegen. „Uns ist ein Fall bekannt, bei dem die gesamte Abrechnungsdatenbank verloren ging – bei nicht funktionierender Datensicherung. Drei Monate ohne Einnahmen – das kann eine Praxis ruinieren.“

Als Reaktion auf die Bedrohungslage bietet die KVBB nun spezielle Schulungen zur IT-Sicherheit für Praxisteams an. Die Inhalte orientieren sich an der neuen Sicherheitsrichtlinie der KBV und reichen von technischer IT-Sicherheit bis hin zu organisatorischen Maßnahmen. „Auch ein offen liegender Patientenbrief kann ein Datenschutzverstoß sein“, erläuterte Herr Rostek. Themen wie Clean-Desk-Policy, Passwortschutz, E-Mail-Sicherheit und der Umgang mit verdächtigen Dateien gehören ebenso zu den Schulungsinhalten wie praxisnahe Notfallstrategien.

Fazit

Die Vertreterversammlung zeigte: Die KVBB-Mitglieder stehen konstruktiv hinter dem Ziel einer besser gesteuerten, zukunftsfesten Versorgung – verlangen aber machbare Lösungen, faire Rahmenbedingungen und echte Mitsprache. Ob Primärarztsystem, Entbudgetierung oder Cybersicherheit: Die Herausforderungen sind vielfältig – und erfordern differenzierte Antworten, die der Versorgung in Brandenburg gerecht werden. Darüber wird sicher auch auf der nächsten VV am 19. September 2025 in Potsdam diskutiert werden.